Szenen-Destruktion mit Chris Ross BSC
Einleitung
Chris Ross ist ein preisgekrönter Kameramann aus Großbritannien, der an Fernsehdramen, Werbespots und Spielfilmen mitgearbeitet hat. Er ist wohl am bekanntesten durch Cats von Tom Hooper, Yesterday von Danny Boyle und Black Sea von Kevin Macdonald. 2022 wurde er Präsident der British Society of Cinematographers (BSC).
Im Rahmen unserer Dekonstruktionsreihe nahm sich Chris kürzlich die Zeit, mit uns über seine Verwendung der VENICE-Kamera von Sony im Netflix-Special The Swimmers zu sprechen: eine bewegende Geschichte über zwei junge Schwestern, die eine lange und gefährliche Reise aus ihrer Heimat, dem kriegsgebeutelten Syrien, bis nach Brasilien und zu den Olympischen Spielen 2016 in Rio unternehmen.
Szenen-Dekonstruktion: wichtige Erkenntnisse
- Negative Fill umfasst die Platzierung dunkler oder schwarzer Karten, Tücher, Flags oder anderer Elemente, sodass das Licht nicht auf das Motiv zurückgeworfen wird. Dies kann den Kontrast auf der dunklen Seite eines Gesichts erhöhen oder einen Teil einer Szene dunkler machen. Es ist das Gegenteil zum Hinzufügen von Licht.
- Durch eine andere Kamerabewegung lässt sich das Gefühl ändern, das eine Aufnahme auslöst. Eine leicht wackelige Aufnahme mit Handkamera kann Dringlichkeit oder Gefahr vermitteln, während eine gleichmäßigere Aufnahme mit Steadicam oder Gimbal anmutiger und kontrollierter wirkt.
- Helles, kontrastreiches Licht lässt eine Szene nicht nur fröhlicher erscheinen, sondern sorgt auch für eine bessere und optimistischere Stimmung, während viel dunkleres, weicheres Licht mit geringem Kontrast die Stimmung einer Aufnahme drücken und Beklemmung auslösen kann.
Hallenbad-Szene
Aufgrund der Beschaffenheit vieler Drehorte im Film musste Chris sehr praktische Beleuchtungssetups nutzen.
Eine wichtige Szene des Films findet in einem großen Innenbecken statt. Das Schwimmbad hat zwei Reihen großer Flutlichter und an den Hauptwänden des Gebäudes riesige Fenster. Chris schaltete alle Flutlichter aus, um die Aufnahmen nicht durch die hässliche Beleuchtung zu ruinieren.
Er hatte nur wenig Kontrolle über das Licht, das durch die riesigen Fenster fiel. Anstatt noch mehr Licht hinzuzufügen, nutzte er Negative Fill, um Licht zu entfernen. Große schwarze oder graue Tafeln wurden verwendet, um Teile der Aufnahmen für einen kontrastreicheren Look abzudunkeln.
Ein wichtiger Teil dieser Szene ist die Beziehung zwischen den beiden Schwestern, Yusra und Sara, sowie Vater und Trainer „Baba“ und ihrer Mutter und Schwester, die auf der Tribüne sitzen. Obwohl in der Sequenz nichts gesagt wird, hielt Chris es für wichtig, die Beziehung zwischen den verschiedenen Charakteren zu zeigen. Chris gestaltete die Szene sorgfältig, um die Bedeutung der Stoppuhr in der Hand des Vaters zu zeigen. Er nutzte Nahaufnahmen mit Weitwinkel, um die Eifersucht und den Konflikt zwischen Sara und Yursa zu verdeutlichen.
Während dann Bomben neben das Schwimmbad fallen, wechselt Chris zu dramatischeren Handkamera-Aufnahmen. Die Kamera wird schnell geschwenkt oder bewegt, um ein Gefühl von Gefahr und Dringlichkeit zu vermitteln, während Bomben weiter in und um das Schwimmbad fallen.
Die letzten Aufnahmen der Szene zeigen, wie eine Bombe in das Schwimmbecken fällt. Für diese Aufnahme verwendete Chris die VENICE-Kamera mit einem 12-mm-Objektiv auf einem Kran, der ins Wasser getaucht werden konnte.
Das Weitwinkelobjektiv vermittelt ein Gefühl der Isolation, während die Bombe neben Yusra untergeht. Die Bombe und Glasscherben wurden den Aufnahmen während der Postproduktion hinzugefügt. Aber der Weitwinkel und der gedämpfte Ton vermitteln einen Moment der Transzendenz für Yusra und sind eine Metapher dafür, dass das Leben in Syrien zu dieser Zeit dem Anstarren einer nicht explodierten Bombe glich.
Hotel-Szene
Für eine Nachtszene in einem Hotelzimmer hielt Chris das Licht sehr einfach. Die Straßenbeleuchtung wurde mit einer einfachen Leuchte auf einem Standfuß außerhalb des Schlafzimmerfensters imitiert. Dies sorgte für ein durch das Fenster sichtbares Highlight im Hintergrund.
Chris erzählt, dass die Hauptbeleuchtung, also die einzige andere Beleuchtung in der Szene, eine einfache Glühbirne in einer praktischen Halterung war. Diese wurde auf einem kleinen Tisch unter dem Fenster platziert. Und je nach Aufnahme auf dem Tisch nach vorne oder hinten bewegt. Für Weitwinkelaufnahmen wurde sie hinten an der Wand platziert und für nähere Aufnahmen dichter an der Kamera.
Um die Dinge einfach zu halten, wurde jede Aufnahme auf einer ähnlichen Achse gefilmt. So war das Licht immer hinter den Schauspielern, um für Form und Kontrast auf ihren Gesichtern zu sorgen. Es wurde nie von der Seite der Lichtquelle gedreht, wodurch die Gesichter viel flacher erscheinen würden.
Szene auf Lesbos
Für die Szene auf Lesbos musste Chris nach der Hälfte die Stimmung der Aufnahmen ändern, da die Schwestern sich vorübergehend als wohlhabende europäische Touristen ausgaben. Daher wurde statt der Handkamera eine Steadicam verwendet. Die flüssigen Steadicam-Aufnahmen vermitteln ein Gefühl von Reichtum und Luxus im Vergleich zu den wackeligeren Handkamera-Aufnahmen.
Um Hitze in einer Szene zu verdeutlichen, drehte Chris so, dass die Sonne hinter den Schauspielern war. Er nutzte sie als Seiten-, Streif- oder Hintergrundlicht. Durch diese Art der Aufnahme erhalten Sie einen hellen weißen Himmel und maximalen Kontrast, der Hitze und hohe Temperaturen vermittelt.
Freibad-Szene
Später in Deutschland sind die Mädchen zur Untätigkeit gezwungen, während sie vorankommen möchten. Diese Szene wurde in einem Freibad in Großbritannien gefilmt. Chris wollte einen krassen Kontrast zwischen ihrer Reise bis zu diesem Punkt und ihrer aktuellen Situation erzeugen. Um dieses andere Gefühl zu vermitteln, verwendete Chris sehr dunkles Licht, um das Tageslicht so weich wie möglich zu machen und einen grauen und kontrastarmen Look zu erhalten.
Für Chris bestand eine große Herausforderung bei The Swimmers darin, dem Zuschauer während der Reise der Mädchen das Gefühl des anteilnehmenden Beobachters zu vermitteln. Er sollte denken, er wäre im Boot oder würde ein Rennen mit ihnen schwimmen. Chris weist darauf hin, dass Kameraleute über eine große Auswahl an Beleuchtungswerkzeugen verfügen, die das kosmetische Aussehen eines Films verändern können. Mehr Lichtquellen bedeuten mehr Streuung oder Negativ Fill und eine größere Einschränkung bei den Kamerabewegungen oder der Positionierung der Schauspieler.
Seiner Meinung nach ist es ziemlich einfach, einige simple Regeln zu lernen, wie man die Sonne oder Bounce und Weichzeichner für einen ansprechenden, kosmetischen Look nutzt. Aber dadurch werden die Möglichkeiten der Kamera begrenzt.
Durch teilweises Umgehen des kosmetischen Charakters beim Filmemachen hofft Chris, dass sich der Zuschauer fühlt, als ob er Teil der Szene vor Ort wäre. So ist die emotionale Resonanz viel stärker.