Szenendekonstruktion mit Matthew Lewis
Einleitung
Bei dieser Dekonstruktion schauen wir uns einen ganz anderen (besonderen) Film an: einen Film in voller Länge, der aber von Kameramann Matthew Lewis in nur einer einzigen Aufnahme gedreht wurde. Der Film, bei dem Philip Barantini das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hat, begleitet Chefkoch Andy Jones (gespielt von Stephen Graham) bei 90 Minuten seines chaotischen Lebens in seinem Restaurant an einem der arbeitsreichsten Abende des Jahres. „Boiling Point“ war für vier BAFTA-Auszeichnungen nominiert, einschließlich der Kategorien „Bester Hauptdarsteller“ und „Bester britischer Film des Jahres“. 2023 folgte dann sogar eine BBC-Spinoff-Serie.
Matthew begann schon als Kind zu fotografieren. Dadurch entdeckte er seine Leidenschaft für Bilder. An der Uni studierte er „Film and Television“ und ergatterte schnell einen Job als Kameraassistent. Barantini war Schauspieler in einem von Matthews Abschlussfilmen, und die beiden arbeiteten daraufhin bei einigen Kurzfilmprojekten zusammen. Daraus entstand eine kreative Beziehung, aus der sich eine Zusammenarbeit bei mehreren Fernsehserien und Filmen ergab.
Bitte beachten Sie, dass das Verlängerungssystem CBK-3610XS von Sony für die VENICE in diesem Video mit dem inoffiziellen Spitznamen „Rialto“ bezeichnet wird. Wir bitten bei etwaigen Unklarheiten um Entschuldigung.
Szenen-Dekonstruktion: wichtige Erkenntnisse
- Akribische Planung und Choreografie sind unerlässlich, wenn eine lange Einzelaufnahme reibungslos funktionieren soll.
- Variationen der Beleuchtungsfarbpalette für unterschiedliche Räume können dazu verwendet werden, einzigartige Atmosphären für jeden Bereich zu schaffen.
Die Restaurantszene
Da Boiling Point in nur einer einzigen Aufnahme gedreht werden sollte, war ein unglaublicher Planungsaufwand erforderlich. Die gesamte Aufnahme musste sorgfältig geplant und choreografiert werden, um sicherzustellen, dass sich Schauspieler, Kamera und Crew alle zur richtigen Zeit am richtigen Ort befinden würden. Es gab viele umfangreiche Durchläufe und Proben am Set, um alles richtig einzustellen und sicherzugehen, dass die Kamera in der richtigen Position mit der richtigen Kadrage (also der Festlegung des Bildausschnitts) für jeden Moment im Skript landen würde.
Es gibt im Restaurant viele sehr unterschiedliche Bereiche, und genau dort kommt der Zuschauer mit vielen der Charaktere in Kontakt. Ein wesentliches Ziel war es, die menschliche Seite zu zeigen und die Verletzlichkeiten des Casts darzustellen.
Die Beleuchtung war für Matthew eine Herausforderung: Unterschiedliche Bereiche hatten sehr unterschiedliche Lichtverhältnisse. Daher wurde viel Zeit während der Durchläufe und Proben darauf verwandt, die Beleuchtung richtig einzustellen. Eine Veränderung des Lichts für einen Teil der Aufnahme könnte nämlich negative Auswirkungen auf einen anderen Teil haben, und ein wenig Hintergrundbeleuchtung, die für einen Winkel erforderlich wäre, könnte zur Herausforderung für einen anderen werden. Um zu gewährleisten, dass die Hauptcharaktere stets aus dem Hintergrund herausstechen, wurden im Verlauf der Aufnahme zentrale Bildausschnittpunkte ausgewählt und die Beleuchtung rund um diese Momente herum ausgerichtet.
Ein kleiner Ausschnitt des umfangreichen Kamerabewegungs- und Beleuchtungsplans des Films
Die Streitszene
Dieser Teil des Films taucht tiefer in einige der persönlichen Konflikte zwischen den verschiedenen Mitgliedern der Restaurantbelegschaft ein. Dies führt zu einem hitzigen Wortgefecht und endet damit, dass die Oberkellnerin in Tränen aufgelöst auf die Toilette stürmt. Während sich der Streit entfaltet, verfolgt Matthew den Dialog mit der Kamera und schwenkt dabei zwischen der Oberkellnerin (Beth) und der Köchin (Carly). Matthew hat die Kamera sehr nah an Beth platziert, damit der Zuschauer die Intensität des Streits aus ihrer Perspektive sieht.
Um einen eindeutigen Unterschied zwischen dem vorderen und dem hinteren Bereich zu schaffen, setzte Matthew ganz unterschiedliche Farbpaletten ein. Er wollte, dass der vordere Bereich warm und atmosphärisch wirkt. Außerdem wollte er das Gefühl vermitteln, dass ein wenig dieser Wärme in den vorderen Küchenbereich hinüberstrahlt. Dies wurde durch den Einsatz warmer Wolframlampen zusammen mit dem Schein der Wärmelampen, die sich bereits im Küchenbereich befanden, erzielt.
Bei der hinteren Küche entschied sich Matthew für eine ganz anderen viel kälteren und düsteren Look mit einem Hauch Grün. Dies half dabei, diesen Bereich ungemütlicher und als beinahe schon unangenehmen Ort im Vergleich zum vorderen Bereich darzustellen. Dieser Look wurde größtenteils durch die Leuchtstoffröhren an der Decke der hinteren Küche erzeugt.
Zur Steuerung des Lichts im Restaurant wurde eine Reihe verschiedener Lampenschirme für die praktischen Leuchten verwendet. Diese Schirme wurden dazu genutzt, die Streuung zu kontrollieren. In einigen Bereiche wurden die ursprünglichen Leuchten durch besser steuerbare Beleuchtungskörper ersetzt. Viele der Lampen verfügten über einen Dimmer, sodass die Lichtstärke in verschiedenen Bereichen während der Aufnahme nach Bedarf ganz subtil zu erhöhen und zu senken.
In Bezug auf den Rest der Location berichtet Matthew, dass rund vier Leuchten hinzugefügt wurden, bei denen es sich nicht um Practicals handelte. Dazu zählten eine Jem-Ball-Lampe (runde, weiche, laternenartige Leuchte, ähnlich einer Chinaball-Lampe), um die rückwärtige Außenseite des Restaurants zu beleuchten, sowie eine Reihe von Wolfram-Fresnel-Lampen, um ein wenig Textur durch die Fenster hinzuzufügen.
„Es ist toll, was man bewirken kann, indem man eine hängende Glühbirne sehr leicht bewegt.“, erklärt Matthew. „Plötzlich sieht man die Form des Gesichts einer Person und nicht nur Pandaaugen.“
„Ich habe einen Bildausschnitt finden, zu dem ich nur an einem Punkt im Drehbuch gelangen konnte – diese wunderbare Zweieraufnahme von hinten, die ich immer schon einmal machen wollte. Es war toll, dass wir dies hier einbauen konnten, als sie sagt, dass Alastair Skye, der Koch, eintreffen wird, da man in das Restaurant blicken kann und es bedrückend aussieht.“
Bei dieser Einstellung musste die Positionierung der Schauspieler perfekt sein, da die Kadrage ansonsten nicht funktionieren würde. Die Kamera befindet sich hinter der Bar und schaut in das Restaurant. Dann folgt die Kamera schnell Carly, während diese sich von der vorderen in die hintere Küche bewegt. Dadurch wird ein hohes Maß an Energie und Momentum geschaffen. Hier stellt sie fest, dass ein anderer Mitarbeiter (Jake) nicht die Kessel und Pfannen spült, wie er es eigentlich tun sollte.
Manchmal muss man Action erfinden, um die Kamera an einen bestimmten Ort zu bringen.
DoP Matthew Lewis
Das Hinzufügen zusätzlicher Actionelemente ermöglichte es Matthew, die Kamera von einer Einstellung zu einer anderen zu bewegen. Dies half auch dabei, verschiedene Teile der Haupthandlung nahtlos zu verbinden. In diesem Fall folgt nun die Kamera Jake aus der hinteren Küche hinaus in die vordere Küche. Dort sehen wir ihm beim Einsammeln von Kesseln und Pfannen. Während die Kamera Jake folgt, bewegt Matthew die Kamera von hinter heraus vor die Bar und fährt dann seitlich an der Bar entlang, bis die Kamera die entgegengesetzte Seite der vorherigen Over-the-Shoulder-Einstellung erreicht hat. Diese Einstellung fühlt sich zwar spontan an, aber wurde tatsächlich sehr sorgfältig geplant und choreografiert.
(1) Verfolgung von hinten (2) Kamerabewegung außerhalb der Bar (3) Seitliche Kamerafahrt nach links (4) Übergang in die Zweieraufnahme
Walnussöl-Szene
Ein Gast mit starker Nussallergie erleidet einen anaphylaktischen Schock und hat Probleme, Luft zu bekommen. Chefkoch Andy will wissen, wer dafür verantwortlich ist, dass diesem Gast Nüsse serviert wurden. Aus diesem Grund trommelt er die gesamte Belegschaft in der hinteren Küche zusammen.
Dies war ein besonders herausfordernder Teil des Films für Matthew. Die Kamera musste die gesamte Belegschaft einfangen, aber auch auf Chefkoch Andy fokussieren können – denn dieser wurde eindeutig durch die ganze Situation in Panik versetzt. Die Kamera nah an Andy zu positionieren, hilft dem Zuschauer dabei, zu sehen und zu verstehen, was aus Andys Perspektive gerade passiert. Um die Spannung noch zu unterstreichen, drehte Matthew diese Szene ein wenig freier; manchmal sogar mit der Kamera in einem schrägen „Dutch Angle“.
Schließlich finden wir heraus, dass Mitarbeiterin Camile Walnussöl in ein Dressing gemischt hat. An diesem Punkt bewegt Matthew die Kamera von ihr weg, um mehr von der Belegschaft im Raum zu zeigen, während ihre Welt zusammenbricht. Die Kamerabewegung vermittelt ein Gefühl von Verzweiflung.
In einem anderen Teil dieser Szene gibt es ein Handgemenge. Um den Zuschauer in die Szene hineinzuziehen, fügt Matthew viele zusätzliche Kamerawackler und -bewegungen hinzu und vermittelt so das Gefühl, direkt am Kampf beteiligt zu sein.
Der Film wurde mit einer Sony VENICE-Kamera und einem 29-mm-Zeiss-Supreme-Objektiv gedreht. Matthew setzte das VENICE-Verlängerungssystem (CBK-3610XS) ein, um den Kamerakopf vom Hauptgehäuse zu trennen. Dies war eines der wesentlichen Dinge, die den Dreh einer solch langen einzigen Aufnahme möglich gemacht haben. Er konnte so das Hauptgehäuse der Kamera auf seinem Rücken tragen und dann das viel kleinere und leichtere VENICE-Verlängerungssystem von einem Serene-Arm an einem Easyrig hängen lassen. Dies ermöglichte einen äußerst mobilen und flüssigen Drehstil und verteilte gleichzeitig das Gewicht der Kamera gleichmäßiger. Die Arme mussten viel weniger Gewicht tragen, als es bei einer herkömmlichen Handheld-Kamera der Fall gewesen wäre.
Das ganze Ding war am [VENICE-Verlängerungssystem] befestigt. Das hat wirklich dafür gesrogt, dass ich die Kamera auf ganz andere Weise bewegen konnte … Das war perfekt für uns geeignet.
DoP Matthew Lewis
Zur Überwachung platzierte Matthew zwei kleine Monitore in 45-Grad-Winkeln am Kamerakopf des VENICE Extension Systems, sodass er auch mit einer leicht zur einen oder anderen Seite geneigten Kamera filmen konnte. Dies bot ihm eine viel größere Flexibilität für verschiedene Winkel und die Kadrage.
Für den Teil der Szene außerhalb der Vorderseite des Restaurants wurden viele Festoon-Glühbirnen eingesetzt, aber Matthew fügte zudem noch eine 5K-Lampe hinzu, um bei Bedarf an erforderlichen Stellen ein wenig auszuleuchten. Zusammen mit den blauen Lichtblitzen von den Leuchten am Krankenwagen hat dies sehr gut funktioniert.
Matthew hat außerdem das Gefühl, dass die Möglichkeit der Aufnahme mit dem oberen ISO-Basiswert von 2500 der VENICE-Kamera für den Dreh essenziell war.
„Wenn 800 ISO unser Basiswert gewesen wäre, dann wäre es wirklich schwierig für uns geworden.“, erzählt Michael. „Es ist faszinierend, wie wenig Licht die (praktischen) Glühlampen abgeben. Mit einer Kinokamera sieht man normalerweise mehr als nur die Practicals, aber wir haben es hinbekommen, da wir einen empfindlichen Sensor hatten, der damit umgehen konnte.“